Nathalia Schomerus: "Einige technische Grundlagen helfen bei der Nutzung von generativer KI und bei der Einordnung von Anwendungen. Wer die Funktionsweisen generativer KI versteht, kann zum Beispiel derzeit besser geeignete Anwendungsfälle für die eigene Arbeit suchen und KI-basierte Tools bewerten. Dazu gehören Themen, die eng mit den Funktionen generativer KI verknüpft sind, z.B. semantische Suche, Vektorisierung, Embeddings, Halluzinationen und Halluzitationen, RAG, Hosting, Cloud Computing oder Finetuning. Diese in ihren Grundzügen zu verstehen, kann auch für das eigene Prompting nützlich sein. Zu diesen Themen haben unter anderem mehrere der großen Tech-Anbieter kostenlose Online-Module veröffentlicht. Ich kann allen empfehlen, sich diese anzusehen, falls das eigene Unternehmen nicht bereits ein Trainingsprogramm anbietet.
Hinzu kommt das praktische Experimentieren mit Anwendungen. Selbst dann, wenn das eigene Unternehmen keine speziellen KI-Tools zur Verfügung stellt, sind beispielsweise die großen Sprachmodelle ChatGPT 4o, Claude 3.5, Gemini 1.5 oder Llama 3 frei verfügbar. Auch Anbieter wie Adobe bieten inzwischen Chatbots und KI-Funktionen an, die man mit eigenen Dokumenten ausprobieren kann. Dadurch kann man nicht nur den Umgang mit generativer KI üben, sondern auch ein besseres Verständnis für ihre Stärken und Limitierungen gewinnen."
VWJ: Welches ist der am weitesten verbreitete Irrglaube, dem du im Zusammenhang mit generativer KI begegnet bist?
Nathalia Schomerus: "Häufig begegnet mir die Vorstellung, es gäbe "die KI". Die fehlende Abgrenzung zwischen verschiedenen Arten von KI und Tech im Allgemeinen sorgt zum Teil für übersteigerte Erwartungen und Missverständnisse rund um die Anwendung von KI-Systemen. Generative KI ist nur eine Untergruppe von Machine Learning, eine Untergruppe von Deep Learning, eine Untergruppe von Künstlicher Intelligenz. Die KI, die Flugzeuge einander automatisiert ausweichen lässt, ist etwas anderes, als das große Sprachmodell, das mir bei der Formulierung von E-Mails hilft. Verschiedene Arten von KI haben verschiedene Anwendungsfälle und werden auf unterschiedliche Weise trainiert, um bestimmte Dinge besonders gut zu können. Häufig bedeutet KI-Implementierung daher, die jeweils passende KI zu finden und so die jeweiligen Stärken zu nutzen. In Zukunft kann es sein, dass eine vorgeschaltete KI bei der Auswahl der jeweils passenden Modelle hilft oder sie ganz übernimmt, doch derzeit haben wir gerade im rechtlichen Bereich noch nicht "die KI", die sowohl die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Klage berechnet als auch Aufgaben aus einem Teams-Call zusammenträgt und schriftlich fixiert."
VWJ: Welche grundsätzlichen Fragen muss man sich stellen, wenn man über den Einsatz von KI im Unternehmen/der Rechtsabteilung nachdenkt?
Nathalia Schomerus: "Welche Aufgaben können besonders gut (teil-)automatisiert werden und welche Use Cases stellen die großen Hebel dar? Kommt es bei ihnen auf Genauigkeit und Fehlerfreiheit an? Ist eine Eigenentwicklung (ggf. mit einem Anbieter) oder das Einkaufen einer Lösung sinnvoller? Welche zukünftigen Entwicklungen großer Anbieter könnten die Lösung ersetzen oder überflüssig machen? Welche internen Daten liegen wo, in welchem Umfang und in welcher Qualität vor? Wie sind sie geschützt? Welche Trainings, Schulungen und ggf. Kulturwandel sind für die erfolgreiche Nutzung von KI notwendig? Welche gesetzlichen und internen Vorgaben gibt es bezüglich der Nutzung von KI und der Verarbeitung von Daten?
Die erste Frage ist dabei die wichtigste. Häufig begegnen mir Herausforderungen, die mit generativer KI gelöst werden sollen, aber für die sich etwas anderes (noch) besser eignet. Ein Beispiel ist der oft unterschätzte Wert klassischer Legal-Tech-Lösungen wie der Vertragsautomatisierung. So kann eine automatisierte Erstellung etwa von Arbeitsverträgen auch ohne KI anschließend bis zu 70% der Arbeitszeit sparen und dabei rechtssichere Verträge produzieren. Dagegen setzen einige derzeit große Sprachmodelle sogar für Aufgaben ein, die sich mit Excel schneller, leichter und besser lösen ließen. Wichtig ist es deshalb, sich vor der Umsetzung zu fragen, welches das niedrigschwelligste, einfachste und hinreichend sichere Tool ist, dass die identifizierten Aufgaben erledigen kann."
Mehr zur Person:
Nathalia Schomerus arbeitet seit 2022 bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS im Bereich Legal Tech. Sie beschäftigt sich mit den strategischen KI-Projekten der Kanzlei und in diesem Kontext primär mit der Anwendung und Entwicklung von generativer KI an der Schnittstelle zwischen Knowledge Management und Training. Nathalia ist Juristin und Theologin und schloss ihr Studium als Clore Graduate Scholar an der Universität Oxford ab. Vor ihrer Zeit bei CMS gründete sie ein StartUp und wurde dafür als Forbes 30 under 30 Europe ausgezeichnet.